Dominanz im Hundetraining, ein überholtes Märchen

08.10.2025

Kaum ein Begriff hat das Hundetraining so nachhaltig geprägt wie das Wort "Dominanz". Viele Menschen glauben noch immer, Hunde müssten sich unterordnen, um zu funktionieren. Doch dieser Gedanke stammt aus einer anderen Zeit – und aus einem wissenschaftlichen Irrtum. Genau darüber kläre ich, Hundetrainer Enrico Wiedemann aus Ibbenbüren und Weißenfels, in meinem gewaltfreien Hundetraining regelmäßig auf.

Woher der Dominanzbegriff wirklich kommt

Ursprünglich stammt das Wort aus der Soziologie. Später wurde es von Ethologinnen und Ethologen übernommen, um das Verhalten von Tieren zu beobachten, nicht um es zu bewerten. Dominanz war nie ein Charakterzug oder moralisches Urteil, sondern ein Beobachtungskriterium: Wer hat in einer Gruppe bevorzugten Zugang zu Ressourcen wie Futter oder Liegeplätzen?

In der Verhaltensbiologie beschreibt Dominanz ein Beziehungsmuster innerhalb einer Art – also zwischen Artgenossen. Sie ist kein Persönlichkeitsmerkmal und kein dauerhafter Status, sondern ein kontextabhängiges Ergebnis wiederholter Interaktionen. In stabilen Gruppen sind dominante Handlungen selten, weil klare Kommunikation Sicherheit schafft. Kooperation ist der Normalfall, nicht Unterdrückung.

Der Ursprung des Missverständnisses

In den 1940er Jahren beobachteten Forschende Wölfe in Gefangenschaft. Die Tiere stammten aus verschiedenen Rudeln und wurden auf engem Raum zusammengepfercht. Die daraus entstehenden Kämpfe und Spannungen deutete man fälschlich als natürliche Rangordnung.

Jahrzehnte später zeigte sich: Freilebende Wölfe leben nicht in hierarchischen Zwangssystemen, sondern in Familienverbänden. Führung entsteht dort durch Erfahrung, Vertrauen und Schutz – nicht durch Unterdrückung. Selbst der Biologe L. David Mech, dessen Arbeiten den Mythos ursprünglich prägten, stellte später klar: "Ich lag falsch."

Warum Dominanz im Hundetraining nichts verloren hat

Trotzdem hält sich die Dominanztheorie bis heute in vielen Köpfen. Sie ist bequem, weil sie einfache Erklärungen liefert. Es ist leichter zu glauben, ein Hund wolle "dominieren", als zu erkennen, dass er unsicher, überfordert oder schlicht missverstanden ist.

Doch Hunde sind keine Wölfe. Sie sind domestizierte Sozialpartner, die auf Kooperation, Sicherheit und Beziehung ausgelegt sind. Dominanzbeziehungen sind artintern – sie gelten nicht zwischen Mensch und Hund. Wer glaubt, ein Hund wolle Menschen "beherrschen", argumentiert außerhalb jeder verhaltensbiologischen Grundlage.

Wenn ein Hund knurrt, zieht oder sich entzieht, dann kommuniziert er. Er zeigt Emotion, Stress oder schlicht Lernverhalten. Das ist kein Machtspiel, sondern Sprache.

Die Folgen des Dominanzdenkens

Die sogenannte Dominanztheorie hat unzählige Hunde verunsichert und beschädigt. Sie hat Trainingsmethoden legitimiert, die auf Druck, Strafe und Angst setzen. Doch Angst ist kein Lernprinzip. Sie zerstört Vertrauen – und ohne Vertrauen kann keine Beziehung entstehen.

Moderne Forschung und Fachgesellschaften wie die AVSAB (American Veterinary Society of Animal Behavior) warnen ausdrücklich vor Dominanzdenken im Hundetraining. Hunde lernen über positive Verstärkung, nicht über Unterwerfung. Sie brauchen Sicherheit, keine Kontrolle.

Fazit: Führung ist keine Machtfrage

Führung bedeutet nicht, über den Hund zu herrschen. Führung bedeutet, Sicherheit zu geben, verlässlich zu handeln und Orientierung zu bieten. Ein souveräner Mensch muss nichts dominieren, um verstanden zu werden.

Wenn dir also jemand erzählt, dein Hund müsse dich "respektieren", dann frag zurück:

Willst du wirklich führen – oder einfach nur Macht haben?

Denn am Ende ist klar:

Wer Dominanz braucht, hat Beziehung nie verstanden.